maart 15, 2024

Die größte Hürde bei Stress und Depression ist der Glaube, man müsse auf Motivation warten, um zu handeln. Das ist ein Trugschluss.

  • Handeln ist nicht die Folge von Motivation, sondern deren Ursache. Kleine, geplante Aktivitäten durchbrechen die Grübel-Spirale.
  • Vermeidungsverhalten verstärkt langfristig die Belastung, während gezielte Konfrontation sie reduziert.

Empfehlung: Beginnen Sie nicht mit dem Ziel, sich besser zu fühlen, sondern mit dem Ziel, eine winzige, geplante Handlung auszuführen – selbst wenn es sich falsch anfühlt. Das ist der Kern der Verhaltensaktivierung.

Kennen Sie das Gefühl, im eigenen Kopf gefangen zu sein? Die Gedanken kreisen unaufhörlich um Probleme, Sorgen und „Was-wäre-wenn“-Szenarien. Man analysiert, reflektiert und grübelt stundenlang in der Hoffnung, eine Lösung zu finden oder sich endlich besser zu fühlen. Die gängigen Ratschläge sind bekannt: „Denk doch mal positiv“, „Mach dir nicht so viele Sorgen“ oder „Das wird schon wieder“. Doch oft führen diese gut gemeinten Tipps nur zu noch mehr Frustration, weil der Kopf einfach nicht abschalten will. Die Lähmung, die aus diesem Dauergrübeln entsteht, ist keine Einbildung, sondern ein neurobiologischer Zustand.

Doch was, wenn die Lösung gar nicht im Denken liegt, sondern im Tun? Was, wenn die wahre Ursache für das Feststecken nicht das Problem selbst ist, sondern das Warten auf ein Gefühl – das Warten auf Motivation, Energie oder die „richtige Stimmung“? Hier setzt ein fundamentaler und oft kontraintuitiver Ansatz der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) an: das Handeln-vor-Gefühl-Prinzip. Es postuliert, dass wir nicht handeln, weil wir uns gut fühlen, sondern dass wir uns gut fühlen, weil wir handeln. Dieser Artikel ist eine klare Handlungsanweisung für alle, die aus der Analyse-Paralyse ausbrechen wollen. Er zeigt Ihnen, warum eine kleine, bewusste Handlung oft wirksamer ist als ein weiterer Tag des Nachdenkens und wie Sie diese Techniken konkret in Ihren Alltag integrieren können.

In diesem Leitfaden, der auf bewährten Methoden der Verhaltenstherapie basiert, werden wir die Mechanismen hinter der Grübel-Falle aufdecken. Sie lernen, wie Sie durch strukturierte Aktivierung den Teufelskreis durchbrechen, warum die Jagd nach Motivation Sie blockiert und wie Sie konkrete Techniken anwenden, um die Kontrolle zurückzugewinnen.

Warum 10 Minuten Handeln mehr bewirken als 10 Stunden Grübeln: Die Aktivierungsforschung

Grübeln fühlt sich oft produktiv an. Wir wälzen ein Problem, analysieren es von allen Seiten und glauben, wir würden an einer Lösung arbeiten. In Wahrheit ist Grübeln (Rumination) jedoch ein mentaler Leerlauf, der Stresshormone auf einem hohen Niveau hält und das Gehirn in einem Problem-Modus gefangen hält. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass dieser Zustand nicht nur psychisch, sondern auch biologisch messbar ist. So bestätigt eine Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, dass bei rund 80% der depressiven Patienten eine veränderte Stresshormon-Regulation vorliegt, die sie anfälliger für die negativen Auswirkungen von Stress macht.

Hier kommt die Aktivierungsforschung ins Spiel. Sie belegt, dass körperliche Aktivität und zielgerichtetes Handeln diesen Teufelskreis durchbrechen können. Wenn wir handeln, schüttet das Gehirn Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin aus, die direkt unsere Stimmung und Motivation beeinflussen. Dieser Prozess ist eine Art neurobiologische Umprogrammierung: Das Gehirn lernt wieder, dass Handeln zu positiven Konsequenzen führt. Selbst eine winzige, 10-minütige Aktivität kann diese positive Rückkopplungsschleife in Gang setzen.

Nahaufnahme von neuronalen Verbindungen, die durch Aktivität und Bewegung stimuliert werden.

Wie dieses Bild andeutet, schafft jede Handlung neue Verbindungen und stärkt positive neuronale Bahnen. Während Grübeln die Problem-Netzwerke im Gehirn stärkt, baut Handeln die Lösungs- und Belohnungs-Netzwerke auf. Der entscheidende Punkt ist: Das Gehirn unterscheidet nicht, ob die Handlung “groß” oder “klein” ist. Der biochemische Prozess der Aktivierung wird bereits durch das Aufstehen und ein Glas Wasser holen in Gang gesetzt.

Ihr Aktionsplan: Die Grübel-Momente-Analyse

  1. Identifizieren: Beobachten Sie sich einen Tag lang und notieren Sie genau, wann Ihre Grübel-Spiralen typischerweise starten (z.B. morgens nach dem Aufwachen, abends im Bett).
  2. Planen: Wählen Sie für jeden identifizierten Grübel-Moment eine konkrete 5-Minuten-Aktivität aus (z.B. die Spülmaschine ausräumen, kurz dehnen, ein Lied laut hören).
  3. Starten: Führen Sie die geplante Aktivität aus, sobald Sie sich beim Grübeln ertappen. Beginnen Sie mit der kleinstmöglichen Bewegung, z.B. nur aufstehen.
  4. Dokumentieren: Bewerten Sie Ihre Stimmung auf einer Skala von 1-10 vor und nach der Aktivität. Machen Sie sich den Unterschied bewusst.
  5. Erweitern: Steigern Sie die Dauer der Aktivitäten schrittweise auf 10 oder 15 Minuten, sobald die 5-Minuten-Einheiten zur Gewohnheit werden.

Wie Sie durch geplante Aktivitäten Ihre Depression Schritt für Schritt auflösen: Die Verhaltensaktivierung

Die Verhaltensaktivierung ist eine der wirksamsten und am besten erforschten Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie zur Behandlung von Depressionen und Antriebslosigkeit. Das Prinzip ist einfach: Anstatt darauf zu warten, dass die Lust oder Energie für eine Aktivität kommt, plant man sie bewusst in den Tag ein, ganz egal, wie man sich fühlt. Ziel ist es, den Kreislauf aus Rückzug, Inaktivität und negativer Stimmung zu durchbrechen. Der Fokus liegt auf Aktivitäten, die entweder Freude bereiten (Vergnügen) oder ein Gefühl von Kompetenz und Erledigung vermitteln (Bewältigung).

Gerade zu Beginn ist es entscheidend, die Hürden so niedrig wie möglich zu halten. Es geht nicht darum, einen Marathon zu laufen, sondern darum, überhaupt in Bewegung zu kommen. Hier sind einige niedrigschwellige Aktivitäten, die sich im deutschen Alltag leicht umsetzen lassen:

  • Den nächsten öffentlichen Bücherschrank in Ihrer Nachbarschaft aufsuchen und 5 Minuten stöbern.
  • Das Kursprogramm der lokalen Volkshochschule (VHS) online durchforsten, ohne sich anmelden zu müssen.
  • Einen 15-minütigen Spaziergang auf einem nahegelegenen, gut ausgeschilderten Wanderweg oder im Stadtpark machen.
  • Das Ehrenamtsportal „Aktion Mensch“ nach kleinen, lokalen Hilfsprojekten durchsuchen.
  • Ein kostenloses Probetraining im örtlichen Sportverein oder Fitnessstudio anfragen.

In Deutschland wird der Zugang zu solchen verhaltenstherapeutischen Methoden zunehmend digitalisiert. Durch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) können Ärzte sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), also „Apps auf Rezept“, verschreiben. Diese werden vollständig von den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) übernommen und bieten strukturierte Programme, die auf den Prinzipien der Verhaltensaktivierung und KVT basieren. Sie sind eine hervorragende Möglichkeit, die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken oder die Therapie zu begleiten. Eine Analyse der Techniker Krankenkasse gibt einen guten Überblick.

Vergleich der wichtigsten DiGA-Apps zur Verhaltensaktivierung in Deutschland
App Name Schwerpunkt Dauer Kostenübernahme
HelloBetter Depression Kognitive Verhaltenstherapie 12 Wochen Vollständig durch GKV
Selfapy Depression Verhaltensaktivierung 12 Wochen Vollständig durch GKV
Novego Depression Online-Therapie 6-12 Wochen Vollständig durch GKV

Vermeiden vs. Konfrontieren: Welches Verhalten Ihre Belastung verringert – und welches sie verdoppelt

Unser Verhalten ist der stärkste Hebel zur Regulierung unserer Gefühle. Dabei gibt es zwei grundlegende Strategien im Umgang mit Stress und unangenehmen Aufgaben: Vermeidung und Konfrontation. Vermeidung fühlt sich kurzfristig gut an. Eine unangenehme E-Mail nicht zu beantworten, den Anruf beim Amt aufzuschieben oder sich vor einem schwierigen Gespräch zu drücken, sorgt für sofortige Erleichterung. Langfristig führt dieses dysfunktionale Vermeidungsverhalten jedoch zu einer massiven Verstärkung des Problems. Der aufgeschobene Berg an Aufgaben wächst, die Angst vor der Konfrontation wird größer und das eigene Selbstbild als „jemand, der Dinge nicht schafft“ verfestigt sich.

Im Gegensatz dazu steht die funktionale Konfrontation. Damit ist nicht gemeint, sich kopfüber in jede Herausforderung zu stürzen. Es bedeutet, sich bewusst und in kleinen, handhabbaren Schritten den Aufgaben und Situationen zu stellen, die Unbehagen auslösen. Jeder kleine Schritt der Konfrontation ist ein Beweis für die eigene Handlungsfähigkeit und reduziert die Angst vor dem nächsten Schritt. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen funktionaler Erholung (eine bewusste Pause, um Kraft zu tanken) und dysfunktionaler Vermeidung (Aufschieben aus Angst). Die folgende Matrix hilft bei der Einordnung des eigenen Verhaltens, basierend auf gängigen Modellen der Stressbewältigung.

Funktionale vs. Dysfunktionale Stressreaktion: Eine Entscheidungsmatrix
Verhalten Kurzfristiger Effekt Langfristiger Effekt Bewertung
Bewusste Erholungspause einlegen Entspannung Mehr Energie, Regeneration Funktional ✓
Steuererklärung aufschieben Kurzfristige Stressvermeidung Drohende Strafzahlung, mehr Stress Dysfunktional ✗
Zwanghaftes Putzen statt Lernen Gefühl von Kontrolle Erschöpfung, Lernproblem bleibt Dysfunktional ✗

Das Kernproblem der Vermeidung ist oft ein tief verankerter Gedanke, der die Lähmung rechtfertigt. Ein deutscher Psychotherapeut fasst seine Praxiserfahrung so zusammen:

Der Satz ‘Mir fehlt die Motivation’ ist die größte Barriere, die ich in meiner Praxis erlebe. Die Wahrheit ist: Motivation ist keine Voraussetzung für Handeln, sondern eine Folge davon.

– Deutscher Psychotherapeut (anonymisiert), Praxiserfahrung Verhaltenstherapie

Die Motivations-Falle: Warum “Ich warte, bis ich mich besser fühle” Sie ewig lähmt

Die „Motivations-Falle“ ist wohl das größte Missverständnis in der Selbsthilfe. Es ist die tief verwurzelte Überzeugung, dass wir zuerst ein bestimmtes Gefühl (Motivation, Energie, Inspiration) benötigen, bevor wir eine Handlung ausführen können. Bei depressiven Verstimmungen oder chronischem Stress wird diese Falle zur Endlosschleife. Warum? Weil die neurobiologischen Grundlagen für das Gefühl der „Belohnungserwartung“ gestört sein können. Man wartet auf ein Gefühl, das aus biochemischen Gründen nur sehr schwer oder gar nicht von alleine entstehen kann.

Eine beeindruckende Studie des Max-Planck-Instituts mit hochpräziser Messung belegt dies. Forscher zeichneten mit 250 Bildern pro Sekunde die Pupillenreaktion von Probanden auf und stellten fest, dass Depressive eine signifikant geringere Pupillenerweiterung zeigten, wenn eine Belohnung in Aussicht gestellt wurde. Ihre Gehirne erwarteten also buchstäblich weniger Positives vom Handeln. Auf Motivation zu warten, ist also wie auf Regen in der Wüste zu warten, während man direkt neben einer Wasserquelle sitzt. Die Quelle ist das Handeln selbst.

Deshalb ist das Handeln-vor-Gefühl-Prinzip so revolutionär. Es kehrt die Kausalität um. Sie stehen nicht auf, weil Sie Energie haben; Sie bekommen Energie, weil Sie aufgestanden sind. Sie räumen nicht auf, weil Sie motiviert sind; Sie fühlen sich kompetent und motiviert, weil Sie aufgeräumt haben. Der erste Schritt ist der schwerste, weil er gegen das Gefühl der Antriebslosigkeit unternommen werden muss.

Eine Person macht den ersten kleinen, entschlossenen Schritt auf einem Weg, der von Morgenlicht erhellt wird.

Dieser erste Schritt, so klein er auch sein mag, ist der Beweis an Ihr Gehirn, dass die Lähmung nicht absolut ist. Sport und Bewegung sind hierfür ein klassisches Beispiel. Es geht nicht darum, Leistungssport zu betreiben. Ein kurzer Spaziergang, Radfahren oder Schwimmen setzt Endorphine frei und bläst den Kopf frei. Die positive Wirkung ist die Folge der Aktivität, nicht deren Voraussetzung.

Wann reines Handeln genügt – und wann Sie zusätzlich Ihre Gedanken bearbeiten müssen

Verhaltensaktivierung ist ein extrem wirkungsvolles Werkzeug, aber es ist kein Allheilmittel. Es ist wichtig zu verstehen, in welchen Situationen reines Handeln oft schon ausreicht und wann eine zusätzliche Bearbeitung der eigenen Gedanken und Überzeugungen notwendig wird. Die Faustregel lautet: Beginnen Sie immer mit dem Verhalten. Wenn Sie jedoch nach einiger Zeit feststellen, dass Sie trotz regelmäßiger Aktivitäten in denselben negativen Denkschleifen gefangen bleiben oder die grundlegende Stimmung sich nicht bessert, ist das ein Zeichen, eine Ebene tiefer zu gehen.

Reines Handeln ist oft ausreichend bei:

  • Allgemeiner Antriebslosigkeit und Prokrastination im Alltag.
  • Leichten bis mittelschweren depressiven Verstimmungen.
  • Stressbedingter Erschöpfung, bei der der Rückzug das Hauptproblem ist.

Eine zusätzliche Gedankenarbeit (kognitive Umstrukturierung) wird notwendig bei:

  • Tiefen, negativen Grundannahmen (z.B. „Ich bin wertlos“, „Ich schaffe sowieso nichts“). Handeln kann diese Annahmen zwar kurzfristig widerlegen, aber nicht immer auflösen.
  • Wiederkehrenden Angstmustern und Phobien, bei denen katastrophisierende Gedanken die Vermeidung antreiben.
  • Perfektionismus, bei dem der innere Kritiker jede Handlung sofort abwertet („Das war nicht gut genug“).

Bei schweren, chronischen Depressionen oder tiefsitzenden Persönlichkeitsmustern sind oft kombinierte Ansätze wie die Schematherapie erforderlich, die sowohl Verhaltens- als auch Emotions- und Kognitionsebene intensiv bearbeitet. Eine große Vergleichsstudie, die OPTIMA-Studie am Max-Planck-Institut mit 300 Probanden, zeigte, dass sowohl die KVT als auch die Schematherapie hochwirksam sind, was die Bedeutung der Wahl des richtigen Werkzeugs für das spezifische Problem unterstreicht.

Wie Sie zwischen den Sitzungen Ihre Genesung beschleunigen: Die wirksamsten Hausaufgaben-Strategien

Psychotherapie ist keine passive Behandlung, sondern ein aktiver Lernprozess. Die eigentliche Veränderung findet oft nicht in der Therapiestunde statt, sondern in der Zeit dazwischen – durch die konsequente Anwendung des Gelernten im Alltag. Therapeutische „Hausaufgaben“ sind daher kein lästiges Übel, sondern der Motor der Genesung. Eine der effektivsten Techniken zur Umsetzung dieser Aufgaben sind die sogenannten Implementation Intentions (Wenn-Dann-Pläne).

Anstatt sich vage vorzunehmen „mehr Sport zu machen“, formulieren Sie einen konkreten Wenn-Dann-Plan: „Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, dann ziehe ich sofort meine Laufschuhe an und gehe 15 Minuten joggen.“ Dieser Plan verbindet eine spezifische Situation (den Auslöser) mit einem gewünschten Verhalten und erhöht die Umsetzungswahrscheinlichkeit drastisch. Hier einige Beispiele:

  • Wenn meine Mittagspause beginnt, dann gehe ich sofort 10 Minuten an die frische Luft.
  • Wenn ich morgens aufstehe, dann schreibe ich als Erstes drei Dinge auf, für die ich dankbar bin.
  • Wenn ich mich beim Grübeln im Bett erwische, dann stehe ich auf und mache 5 Minuten lang leichte Dehnübungen.

Ein weiteres zentrales Werkzeug ist das Führen eines Fortschritts-Tagebuchs. Es dient nicht nur der Dokumentation, sondern auch der kognitiven Umstrukturierung. Indem Sie Ihre automatischen Gedanken vor einer Aktivität („Das bringt eh nichts“) mit dem tatsächlichen Ergebnis („Ich fühlte mich danach erfrischt und wacher“) vergleichen, entlarven Sie Ihre negativen Vorhersagen als unzutreffend. Dies schwächt die Macht der hinderlichen Gedanken über die Zeit.

Struktur eines einfachen Fortschritts-Tagebuchs
Wochentag Geplante Aktivität Automatischer Gedanke davor Tatsächliches Ergebnis Stimmung (Vorher/Nachher 1-10)
Montag 15 Min Spaziergang ‘Das bringt eh nichts, ich bin zu müde.’ Fühlte mich danach erfrischt. Vorher: 3, Nachher: 5
Dienstag Freund anrufen ‘Ich nerve bestimmt und bin eine Last.’ Gutes, langes Gespräch geführt. Vorher: 4, Nachher: 7

Wie Sie mit der ABC-Technik Ihre automatischen Gedanken selbst umstrukturieren: Die Schritt-für-Schritt-Anleitung

Wenn reines Handeln nicht ausreicht und negative Gedanken immer wieder die Oberhand gewinnen, ist es Zeit für die kognitive Umstrukturierung. Das ABC-Modell, entwickelt von Albert Ellis, ist ein Kernstück der KVT und ein mächtiges Werkzeug zur Selbsthilfe. Es geht davon aus, dass nicht die Situation selbst (A) unsere Gefühle und Verhaltensweisen (C) auslöst, sondern unsere Bewertung (B) dieser Situation. Die meisten unserer negativen Gefühle entstehen also nicht durch Ereignisse, sondern durch unsere automatischen, oft unbewussten Gedanken darüber.

Die Schritte des Modells sind:

  • A (Activating Event / Auslöser): Was ist objektiv passiert? (z.B. „Ein Freund hat eine Verabredung kurzfristig abgesagt.“)
  • B (Beliefs / Bewertung): Welche Gedanken gingen mir sofort durch den Kopf? (z.B. „Er mag mich nicht mehr. Ich bin ihm nicht wichtig. Ich bin immer allein.“)
  • C (Consequences / Konsequenzen): Welche Gefühle und welches Verhalten folgten daraus? (z.B. Gefühl: Traurigkeit, Einsamkeit. Verhalten: Ich ziehe mich zurück und melde mich bei niemandem mehr.)

Der entscheidende Punkt ist, dass wir A (den Auslöser) oft nicht ändern können, aber wir können an B (unserer Bewertung) arbeiten. Indem wir unsere automatischen Gedanken identifizieren und hinterfragen, können wir die emotionalen Konsequenzen (C) direkt beeinflussen. Dieser Prozess des Hinterfragens wird als Disputation (D) bezeichnet und kann mithilfe von Sokratischen Fragen erfolgen. Diese Fragen helfen, die oft irrationalen und übertriebenen automatischen Gedanken zu entkräften und durch realistischere, hilfreichere Alternativen zu ersetzen (E – Effektive neue Einstellung).

Ihr Plan zur Gedanken-Disputation: Sokratische Fragen an sich selbst

  1. Beweise prüfen: Welche objektiven Beweise gibt es dafür, dass dieser Gedanke (B) zu 100% wahr ist? Welche Beweise sprechen dagegen?
  2. Alternative suchen: Gibt es eine andere, wohlwollendere oder nützlichere Erklärung für die Situation (A)? (z.B. “Vielleicht hat er gerade wirklich viel Stress.”)
  3. Katastrophe entkräften: Was ist das absolut Schlimmste, das passieren könnte, wenn der Gedanke wahr wäre? Wie wahrscheinlich ist das wirklich? Könnte ich damit umgehen?
  4. Perspektive wechseln: Was würde ich einem guten Freund oder einer guten Freundin in genau dieser Situation raten?
  5. Zeitliche Distanz schaffen: Wie wichtig wird diese Situation in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr noch sein?

Das Wichtigste in Kürze

  • Handeln vor Gefühl: Warten Sie nicht auf Motivation. Handeln Sie zuerst, die Motivation folgt als biochemische Belohnung des Gehirns.
  • Vermeidung stoppen: Identifizieren Sie Vermeidungsverhalten in Ihrem Alltag. Es ist der größte Nährboden für Stress und Angst. Ersetzen Sie es durch kleine, geplante Konfrontationen.
  • ABC-Technik nutzen: Es sind nicht die Ereignisse, die Sie belasten, sondern Ihre automatischen Bewertungen. Lernen Sie, diese Gedanken zu identifizieren, zu hinterfragen und zu verändern.

Wie Sie 7 verhaltenstherapeutische Techniken ohne Therapeut selbst anwenden: Das Selbsthilfe-Manual

Der Weg aus Stress und Grübeln ist ein Prozess, der auf verschiedenen Ebenen ansetzt. Die Verhaltenstherapie bietet einen Baukasten an Techniken, die Sie auch selbst anwenden können, um diesen Prozess aktiv zu gestalten. Wichtig ist dabei, strukturiert vorzugehen und sich nicht zu überfordern. Betrachten Sie die folgenden Stufen als einen Fahrplan, den Sie Schritt für Schritt durchlaufen können. Beginnen Sie immer bei Stufe 1, bevor Sie zur nächsten übergehen.

Der 7-Stufen-Selbsthilfe-Fahrplan der Verhaltenstherapie:

  1. Stufe 1: Verhaltensaktivierung. Schaffen Sie eine feste Tagesstruktur mit kleinen, geplanten Aktivitäten. Dies ist das Fundament für alles Weitere.
  2. Stufe 2: Achtsamkeit. Üben Sie, Ihre Gedanken und Gefühle zu beobachten, ohne sie sofort zu bewerten oder darauf reagieren zu müssen.
  3. Stufe 3: Problemlösetraining. Wenn Sie vor einem konkreten Problem stehen, lernen Sie, es strukturiert in kleine Teilschritte zu zerlegen und systematisch Lösungen zu entwickeln.
  4. Stufe 4: Konfrontation (Exposition). Gehen Sie bewusst und in kleinen Dosen Situationen an, die Sie bisher aus Angst vermieden haben.
  5. Stufe 5: ABC-Technik. Beginnen Sie damit, Ihre automatischen Gedanken in Stresssituationen zu identifizieren und zu protokollieren.
  6. Stufe 6: Kognitive Umstrukturierung. Nutzen Sie die Sokratischen Fragen, um die identifizierten Gedanken aktiv zu hinterfragen und zu verändern.
  7. Stufe 7: Rückfallprävention. Lernen Sie, Ihre persönlichen Frühwarnsignale für Stress und Rückzug zu erkennen und erstellen Sie einen Notfallplan mit bewährten Strategien.

Selbsthilfe hat jedoch ihre Grenzen. Dauerstress ist nicht nur eine psychische, sondern auch eine körperliche Belastung, die den Spiegel der Stresshormone dauerhaft erhöht und krank machen kann. Wenn Sie merken, dass Sie allein nicht weiterkommen, Ihre Stimmung sich dauerhaft verschlechtert oder Sie unter Suizidgedanken leiden, ist es unerlässlich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. In akuten Krisen stehen in Deutschland rund um die Uhr Anlaufstellen zur Verfügung. Zögern Sie niemals, diese zu kontaktieren.

Wichtige Notfallnummern in Deutschland: Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 (24h, anonym und kostenlos) Ärztlicher Bereitschaftsdienst: 116 117 (bundesweit)

Der Schlüssel zur Veränderung liegt nicht im Lesen dieses Artikels, sondern in der Umsetzung. Beginnen Sie noch heute mit der kleinsten möglichen Handlung aus Stufe 1. Stehen Sie auf, machen Sie einen 5-minütigen Spaziergang oder rufen Sie einen Freund an. Starten Sie jetzt den Prozess, die Kontrolle zurückzugewinnen.

Julia Schmidt, Psychologische Psychotherapeutin mit Kassenzulassung und Schwerpunkt kognitive Verhaltenstherapie seit 12 Jahren, zertifizierte DBT- und Schematherapeutin, aktuell in eigener Praxis in einer süddeutschen Großstadt tätig.