mei 11, 2024

Die Kontrolle über akute körperliche Stresssymptome liegt nicht im positiven Denken, sondern im gezielten Ansteuern Ihres autonomen Nervensystems.

  • Ihre Stressreaktion ist ein evolutionäres Programm, das durch moderne Auslöser wie E-Mails fehlgeleitet wird und bewusst reguliert werden muss.
  • Die Aktivierung des Vagusnervs durch spezifische Atemtechniken ist der direkteste Weg, die physiologische „Notbremse“ zu ziehen.

Empfehlung: Konzentrieren Sie sich auf körperbasierte „Bottom-up“-Methoden wie den physiologischen Seufzer, um Ihr Nervensystem sofort zu normalisieren, anstatt nur die mentalen Symptome zu bekämpfen.

Herzrasen vor einer wichtigen Präsentation. Schweißnasse Hände beim Öffnen einer kritischen E-Mail. Ein Kloß im Hals, der sich einfach nicht lösen will. Diese körperlichen Reaktionen sind keine Einbildung. Es ist Ihr autonomes Nervensystem, das in den Kampf-oder-Flucht-Modus schaltet – eine überlebenswichtige Reaktion, die für die Begegnung mit einem Säbelzahntiger entwickelt wurde, nicht für den digitalen Arbeitsalltag. In Deutschland erleben immer mehr Menschen genau diese Diskrepanz, was zu einer Zunahme von stressbedingten Beschwerden führt.

Die üblichen Ratschläge – „atme einfach tief durch“ oder „denk positiv“ – greifen oft zu kurz, weil sie die tiefsitzende Physiologie ignorieren. Sie versuchen, ein Feuer mit einem Wasserglas zu löschen, ohne die Gaszufuhr zu unterbrechen. Der wahre Hebel liegt tiefer: in der bewussten Steuerung jenes Teils Ihres Nervensystems, der für Ruhe und Regeneration zuständig ist. Doch wie kann man einen unbewussten Prozess bewusst beeinflussen? Die Antwort liegt nicht in Willenskraft, sondern in spezifischen, körperlichen Techniken, die wie ein Code direkt mit Ihrem Gehirnstamm kommunizieren.

Dieser Artikel bricht mit der oberflächlichen Stressbewältigung. Als Neurophysiologe und Biofeedback-Therapeut zeige ich Ihnen die Mechanismen hinter Ihrer Stressreaktion und gebe Ihnen evidenzbasierte Werkzeuge an die Hand, mit denen Sie die physiologische Notbremse ziehen können. Wir werden untersuchen, wie Ihr Vagusnerv als Hauptakteur agiert, warum bestimmte Atemtechniken wirksamer sind als andere und welche konkreten Schritte Sie innerhalb des deutschen Gesundheitssystems unternehmen können, um langfristige Resilienz aufzubauen. Es geht darum, die Kontrolle zurückzugewinnen – nicht durch Kampf, sondern durch Verständnis und gezielte Regulation.

Um die Kontrolle über Ihre körperliche Stressreaktion vollständig zu verstehen und zu meistern, werden wir die zugrunde liegenden Mechanismen Schritt für Schritt entschlüsseln. Der folgende Überblick führt Sie durch die evolutionären Ursachen, die neurophysiologischen Steuerungselemente und die praktischsten Techniken zur sofortigen und langfristigen Regulierung.

Warum Ihr Körper auf E-Mails wie auf Säbelzahntiger reagiert: Die evolutionäre Stressfalle

Ihr Nervensystem arbeitet mit einer Software, die seit Tausenden von Jahren nicht grundlegend aktualisiert wurde. Der Mechanismus der Kampf-oder-Flucht-Reaktion, gesteuert vom sympathischen Nervensystem, war überlebenswichtig. Bei einer physischen Bedrohung schüttet der Körper Adrenalin und Cortisol aus, der Herzschlag beschleunigt sich, die Muskeln spannen sich an – alles, um schnell fliehen oder kämpfen zu können. Das Problem: Dieses System, die sogenannte „Neurozeption“, kann nicht zwischen einer realen physischen Gefahr und einer wahrgenommenen psychischen Bedrohung unterscheiden. Eine aggressive E-Mail vom Vorgesetzten, die Angst vor einem Jobverlust oder eine Flut von Benachrichtigungen können dieselbe Kaskade auslösen.

Im modernen Arbeitsleben in Deutschland ist dies zu einem Dauerzustand geworden. Eine aktuelle Studie des Beratungsunternehmens Adaptavist zeigt, dass 43% der Befragten Stress durch die ständige Nachrichtenflut und das Wechseln zwischen digitalen Plattformen empfinden. Ihr Körper interpretiert diese ständigen digitalen „Angriffe“ als reale Bedrohungen und verharrt in einem Zustand chronischer Aktivierung. Die Folgen sind gravierend: Laut Daten des AOK Fehlzeiten-Reports 2024 waren psychische Erkrankungen im Vorjahr mit 11,9 Prozent die dritthäufigste Ursache für Krankmeldungen. Die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Diagnosen ist seit 2014 sogar um 47 Prozent gestiegen. Sie stecken in einer evolutionären Falle, in der Ihr Körper ständig für einen Kampf mobilisiert wird, der nie stattfindet.

Das Verständnis dieses Mechanismus ist der erste Schritt zur Befreiung. Sie kämpfen nicht gegen einen persönlichen Makel, sondern gegen eine tief verwurzelte biologische Programmierung. Anstatt sich über die Reaktion zu ärgern, können Sie lernen, dem System gezielte Signale der „Sicherheit“ zu senden, um es wieder in den Ruhezustand zu versetzen.

Wie Sie Ihren Vagusnerv aktivieren und den Sympathikus bremsen: Die autonome Steuerung

Der Gegenspieler des alarmbereiten Sympathikus ist der Parasympathikus, Ihr körpereigenes System für Ruhe, Verdauung und Regeneration. Der wichtigste Akteur in diesem System ist der Vagusnerv. Er ist der zehnte Hirnnerv und verläuft vom Gehirnstamm bis in den Bauchraum, wobei er Organe wie Herz, Lunge und Darm vernetzt. Man kann ihn sich als eine physiologische Notbremse vorstellen. Wenn der Vagusnerv stimuliert wird, sendet er Signale an das Herz, langsamer zu schlagen, und an den Körper, sich zu entspannen. Wie Dr. Andreas Hagemann, Facharzt für Psychiatrie, betont, ist der Vagusnerv für die Regulation von Atmung, Herzschlag und Stressreaktionen von zentraler Bedeutung.

Das Faszinierende daran ist: Sie können diesen Nerv gezielt aktivieren. Da der Vagusnerv eng mit dem Zwerchfell und den Stimmbändern verbunden ist, sind langsame, kontrollierte Ausatmungen der direkteste Weg, ihn zu stimulieren. Eine weitere einfache Methode ist die Kälteeinwirkung im Gesicht, da hier viele Nervenenden des Vagusnervs liegen. Ein kurzer Spritzer kaltes Wasser oder das Halten eines Kühlpacks an die Wangen kann eine sofortige beruhigende Wirkung haben.

Nahaufnahme einer Person die ihr Gesicht mit kaltem Wasser benetzt

Die wirksamste und schnellste Technik ist jedoch der sogenannte physiologische Seufzer. Diese von Neurowissenschaftlern der Stanford University erforschte Methode maximiert den Gasaustausch in der Lunge und aktiviert den Vagusnerv unmittelbar. Die Technik besteht aus einem doppelten Einatmen durch die Nase (erst tief, dann ein kurzer „Nachschnapper“), gefolgt von einem langen, vollständigen Ausatmen durch den Mund. Bereits zwei bis drei Wiederholungen können ausreichen, um ein Gefühl der Ruhe herzustellen und die Herzfrequenz zu senken.

HRV-Training vs. Atemtechnik vs. PMR: Was Ihre Stressphysiologie am schnellsten normalisiert

Es gibt zahlreiche Entspannungstechniken, doch nicht alle sind für jede Situation gleich gut geeignet. Ihre Wirksamkeit hängt stark vom Ziel ab: Geht es um sofortige Deeskalation in einer akuten Stresssituation oder um den langfristigen Aufbau von Resilienz? Als Biofeedback-Therapeut sehe ich täglich, wie entscheidend die Wahl des richtigen Werkzeugs ist. Die drei gängigsten körperbasierten Methoden sind das Herzratenvariabilitäts-Training (HRV), gezielte Atemtechniken und die Progressive Muskelentspannung (PMR).

Atemtechniken wie der physiologische Seufzer oder die Box-Atmung (4 Sekunden ein, 4 halten, 4 aus, 4 halten) sind die erste Wahl für akute Stressmomente. Sie wirken innerhalb von Minuten, da sie direkt über den Vagusnerv die Herzfrequenz und den Blutdruck senken. Sie sind die „Feuerlöscher“ Ihres Nervensystems. Das HRV-Training ist hingegen eine langfristige Strategie. Hierbei atmet man gezielt in einer bestimmten Frequenz, um die Schwingungsfähigkeit des Herzens zu trainieren. Die optimale Frequenz liegt oft bei etwa 5,5 Atemzügen pro Minute. Dies stärkt den Parasympathikus nachhaltig, erfordert aber tägliches Training über Wochen. Es ist wie Krafttraining für Ihr Herz-Kreislauf-System. Die Progressive Muskelentspannung (PMR) nach Jacobson, bei der Muskelgruppen gezielt an- und wieder entspannt werden, ist besonders effektiv bei körperlichen Verspannungen und Einschlafproblemen, da sie den Fokus vom Kopf in den Körper lenkt.

Die folgende Tabelle, basierend auf Erkenntnissen der Gesundheitsförderung, wie sie auch von Krankenkassen wie der Techniker Krankenkasse (TK) vermittelt werden, gibt einen klaren Überblick über die Methoden.

Vergleich der Entspannungstechniken
Technik Zeitaufwand Wirkungseintritt Beste Situation
HRV-Training 10-20 Min täglich Langfristig (Wochen) Resilienzaufbau
Atemtechnik 2-5 Minuten Sofort Akuter Stress
PMR 15-30 Minuten Nach 10 Minuten Einschlafprobleme

Die Tabletten-Falle: Warum Betablocker Ihre Stressreaktion langfristig verschlimmern

Bei starkem Herzrasen oder Zittern, beispielsweise bei Auftrittsangst, greifen manche Menschen zu Betablockern. Diese Medikamente blockieren die Wirkung von Adrenalin am Herzen und senken so künstlich die Herzfrequenz und den Blutdruck. Sie kappen quasi das Kabel zwischen dem Stresssignal des Gehirns und der körperlichen Reaktion. Das mag kurzfristig wie eine Lösung erscheinen, birgt aber eine erhebliche Gefahr: Sie behandeln nur das Symptom, nicht die Ursache. Ihr Gehirn lernt dadurch nicht, die Stresssituation selbst zu regulieren. Die eigentliche Fähigkeit zur Selbstregulation wird nicht trainiert, sondern umgangen.

Langfristig kann dies die Situation sogar verschlimmern. Der Körper verlernt, die Stressreaktion eigenständig zu beenden. Es kann eine psychische Abhängigkeit entstehen, bei der man das Gefühl hat, ohne die Tablette nicht mehr leistungsfähig zu sein. Stattdessen gibt es im deutschen Gesundheitssystem zahlreiche wirksame und nachhaltige Alternativen, die darauf abzielen, die körpereigene Regulationsfähigkeit zu stärken. Wie die Achtsamkeitstrainerin Angela Homfeldt für die AOK schreibt: „Wir können Stress jedoch entgegenwirken, wenn wir wieder bewusster und tiefer atmen. Gezielte Atemübungen sind daher ideale Strategien für die Stressbewältigung.“

Anstatt zur Tablette zu greifen, sollten Sie die Ursache an der Wurzel packen. Der erste Schritt ist immer das Gespräch mit dem Hausarzt, um organische Ursachen auszuschließen und eine psychosomatische Beratung zu erhalten. Viele Krankenkassen bieten zudem zertifizierte und oft kostenfreie Präventionskurse an.

Ihr Plan für nachhaltige Stressregulation in Deutschland

  1. Hausarzt aufsuchen: Bitten Sie um eine psychosomatische Grundberatung, um die Verbindung von Körper und Psyche zu besprechen und organische Ursachen auszuschließen.
  2. Krankenkassen-Kurse nutzen: Informieren Sie sich über Stressbewältigungskurse (z.B. Autogenes Training, PMR, Yoga), die nach § 20 SGB V von Ihrer Krankenkasse bezuschusst oder übernommen werden.
  3. Online-Programme prüfen: Erkunden Sie digitale Angebote wie das AOK-Programm „Stress im Griff“, einen 4-wöchigen, oft kostenfreien Online-Kurs zur Stressbewältigung.
  4. Psychotherapeutische Hilfe in Betracht ziehen: Bei starker Belastung nutzen Sie die Psychotherapeutensuche der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), um einen Therapeuten für eine Verhaltenstherapie zu finden.

Wann Herzrasen und Schwitzen normal sind – und wann sie eine Angststörung anzeigen

Eine akute Stressreaktion ist, wie wir gesehen haben, ein normaler und sogar gesunder Mechanismus. Herzrasen vor einer Prüfung oder schwitzige Hände bei einem ersten Date sind kein Grund zur Sorge. Es ist die angemessene Reaktion Ihres Körpers auf eine herausfordernde Situation. Kritisch wird es jedoch, wenn diese Reaktionen unverhältnismäßig stark sind, ohne klaren Auslöser auftreten oder so intensiv werden, dass sie Ihren Alltag beeinträchtigen. An diesem Punkt verschwimmt die Grenze zwischen einer normalen Stressreaktion und einer potenziellen Angststörung.

Der entscheidende Unterschied liegt in der Verhältnismäßigkeit und der Kontrolle. Während eine normale Stressreaktion abklingt, sobald die Herausforderung vorüber ist, verselbstständigt sich die Angstreaktion. Der Körper schlägt Alarm, obwohl keine reale Gefahr besteht. Menschen mit einer Panikstörung erleben plötzliche Anfälle von Todesangst, begleitet von massivem Herzrasen, Atemnot und Schwindel, oft aus heiterem Himmel. Bei einer generalisierten Angststörung ist die Sorge ein ständiger Begleiter, der zu chronischer Anspannung, Schlafstörungen und Konzentrationsproblemen führt. Gerade bei jungen Menschen in Deutschland ist dies ein wachsendes Problem. Laut der Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“ berichten 51% der 14- bis 29-Jährigen von psychischen Belastungen wie Stress und Erschöpfung.

Wenn Sie befürchten, dass Ihre Symptome über eine normale Reaktion hinausgehen, sollten Sie professionelle Hilfe suchen. Ein erster Ansprechpartner ist der Hausarzt oder ein Psychotherapeut. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung, oft durch Verhaltenstherapie und Entspannungstechniken, können verhindern, dass sich die Angst chronifiziert und ein Vermeidungsverhalten entwickelt, das den Lebensradius immer weiter einschränkt.

Warum Dauerstress Ihr Immunsystem um 40% schwächt – und welche Krankheiten daraus entstehen

Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist für den Kurzstreckensprint konzipiert, nicht für den Marathon. Befindet sich der Körper im Dauer-Alarmzustand, hat dies verheerende Folgen für das Immunsystem. Das Stresshormon Cortisol, das in akuten Phasen entzündungshemmend wirkt, unterdrückt bei chronisch erhöhten Spiegeln die Aktivität der Immunzellen. Die Produktion von wichtigen Abwehrzellen wie T-Zellen und natürlichen Killerzellen wird gedrosselt. Studien deuten darauf hin, dass die Immunfunktion unter chronischem Stress um bis zu 40% reduziert sein kann. Ihr Körper investiert alle Energie in die vermeintliche Flucht und vernachlässigt die Instandhaltung und Abwehr.

Dies macht Sie anfälliger für Infektionskrankheiten – von der einfachen Erkältung bis hin zu schwereren viralen Infekten. Doch die Folgen gehen weit darüber hinaus. Chronischer Stress fördert systemische Entzündungsprozesse im Körper, die als Nährboden für eine Vielzahl von Zivilisationskrankheiten gelten. Dazu gehören Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2, Magen-Darm-Beschwerden wie das Reizdarmsyndrom und autoimmune Erkrankungen. Die psychische Belastung am Arbeitsplatz ist hier ein wesentlicher Faktor. Eine Auswertung der AOK Rheinland/Hamburg zeigt einen dramatischen Anstieg der Fehltage durch psychische Belastungen bei unter 30-Jährigen um 50% in den letzten zehn Jahren.

Symbolische Darstellung eines geschwächten Immunsystems durch chronischen Stress

Wie Experten auf Portalen wie Haufe.de betonen, zählen psychische Belastungen und Burnout zu den größten Herausforderungen für Unternehmen in Deutschland. Die Schwächung des Immunsystems ist keine abstrakte Gefahr, sondern eine direkte biologische Konsequenz eines Lebensstils, bei dem die Pausen zur Regeneration fehlen. Die Kontrolle der Stressreaktion ist somit nicht nur eine Frage des Wohlbefindens, sondern eine grundlegende Maßnahme der Krankheitsprävention.

Warum Ihre Atmung mächtiger als Medikamente sein kann: Die Wissenschaft der Atemkontrolle

Die Vorstellung, dass der eigene Atem eine stärkere Wirkung haben kann als ein Medikament, mag kontraintuitiv klingen. Doch aus neurophysiologischer Sicht ist es absolut logisch. Während Medikamente wie Betablocker von außen in die Körperchemie eingreifen und Signale unterdrücken (ein sogenannter „Top-down“-Ansatz, der die Symptome dämpft), wirkt die Atemkontrolle von innen heraus. Es ist eine „Bottom-up“-Regulation: Sie nutzen einen physischen Prozess (die Atmung), um dem Gehirn ein Signal der Sicherheit zu senden und die gesamte neurochemische Kaskade zu verändern.

Dr. Nils Kroemer, Neurowissenschaftler am Universitätsklinikum Tübingen, erklärt den Mechanismus präzise: Die Aktivierung des Vagusnervs über die Atmung aktiviert den Parasympathikus, den Gegenspieler des stressfördernden Sympathikus. Dieser ist für Erholung und Regeneration zuständig. Durch eine langsame, tiefe Zwerchfellatmung massieren Sie quasi den Vagusnerv und teilen Ihrem Gehirn mit: „Die Gefahr ist vorüber. Du kannst die Alarmbereitschaft herunterfahren.“ Ihr Körper reagiert darauf, indem er die Produktion von Stresshormonen drosselt und stattdessen beruhigende Neurotransmitter wie Acetylcholin ausschüttet. Sie trainieren aktiv die Fähigkeit Ihres Körpers zur Selbstregulation.

Dieser Ansatz hat entscheidende Vorteile gegenüber einer rein medikamentösen Behandlung, wie die folgende Gegenüberstellung verdeutlicht.

Atemkontrolle vs. Medikamente – Wirkungsweise
Aspekt Atemkontrolle Betablocker
Wirkprinzip Bottom-up Regulation Symptomunterdrückung
Selbstregulation Wird trainiert Wird nicht gefördert
Langzeiteffekt Nachhaltig Abhängigkeit möglich
Nebenwirkungen Keine Müdigkeit, Schwindel

Das Wichtigste in Kürze

  • Ihre körperliche Stressreaktion ist ein uraltes Programm, das durch gezielte Aktivierung des Vagusnervs bewusst gesteuert werden kann.
  • Atemtechniken sind keine Esoterik, sondern eine wissenschaftlich fundierte „Bottom-up“-Methode, um Ihr autonomes Nervensystem direkt zu regulieren.
  • Nachhaltige Stressbewältigung trainiert die Selbstregulation, anstatt nur Symptome mit Medikamenten zu unterdrücken. Nutzen Sie die Angebote des deutschen Gesundheitssystems.

Wie Sie durch 5 körperliche Techniken Ihre Angst in 10 Minuten senken

Theorie ist wichtig, aber in einem Moment akuter Angst oder Panik brauchen Sie sofort anwendbare Werkzeuge. Die folgenden fünf Techniken basieren auf dem Prinzip der Bottom-up-Regulation. Sie nutzen den Körper, um dem Gehirn zu signalisieren, dass es sicher ist, den Alarmzustand zu beenden. Sie erfordern keine besondere Umgebung und können diskret am Schreibtisch, in der U-Bahn oder vor einem wichtigen Gespräch angewendet werden, um Ihr Nervensystem schnell zu normalisieren.

Diese Methoden wirken, weil sie unwillkürliche Prozesse ansprechen, die mit Sicherheit und Entspannung verbunden sind. Sie umgehen den überaktiven präfrontalen Kortex, der in Angstmomenten oft in Gedankenspiralen gefangen ist.

  1. Der physiologische Seufzer: Wie bereits erwähnt, ist dies die schnellste Methode. Atmen Sie zweimal kurz und kräftig durch die Nase ein, um die Lungenbläschen maximal zu füllen, und dann langsam und vollständig durch den Mund aus. Wiederholen Sie dies 2-3 Mal.
  2. Die Orienting-Technik: Drehen Sie langsam den Kopf und lassen Sie Ihre Augen den Raum scannen. Benennen Sie innerlich und ohne Wertung fünf Objekte, die Sie sehen (z.B. „Lampe“, „Bild“, „Stuhl“). Dies signalisiert Ihrem Gehirn, dass die Umgebung sicher genug ist, um sie zu erkunden, und unterbricht den Tunnelblick der Angst.
  3. Neurogenes Zittern: Stellen Sie sich hin und schütteln Sie für 1-2 Minuten leicht Ihren ganzen Körper, beginnend bei den Händen und Füßen. Tiere tun dies instinktiv nach einer Stresssituation, um die überschüssige Energie aus den Muskeln zu entladen.
  4. Pandikulation: Strecken und rekeln Sie sich intuitiv wie eine Katze nach dem Aufwachen. Kombinieren Sie dies mit einem herzhaften Gähnen. Dieser Prozess setzt Muskelverspannungen zurück und aktiviert ebenfalls den Parasympathikus.
  5. 4-7-8 Atmung: Atmen Sie 4 Sekunden lang durch die Nase ein, halten Sie den Atem für 7 Sekunden an und atmen Sie dann 8 Sekunden lang hörbar durch den Mund aus. Die lange Ausatmung ist hier der Schlüssel zur Aktivierung des Vagusnervs. Führen Sie 4 Zyklen durch.

Finden Sie heraus, welche dieser Techniken für Sie am besten funktioniert. Üben Sie sie in ruhigen Momenten, damit sie in einer akuten Situation wie ein vertrauter Reflex abrufbar sind. Es geht darum, ein Repertoire an Sofortmaßnahmen aufzubauen, um die Kontrolle schnell zurückzuerlangen.

Mit diesen praktischen Werkzeugen sind Sie nicht mehr hilflos. Um sicherzustellen, dass Sie diese Methoden im entscheidenden Moment parat haben, ist es hilfreich, sich diese 5 körperlichen Angstlöser gut einzuprägen.

Der Schlüssel zur Meisterung Ihrer Stressphysiologie liegt in der regelmäßigen Anwendung dieser Techniken und dem tiefen Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen. Um eine nachhaltige Veränderung zu bewirken, ist der nächste logische Schritt, diese Erkenntnisse in Ihren Alltag zu integrieren und bei Bedarf professionelle Unterstützung im Rahmen des deutschen Gesundheitssystems in Anspruch zu nehmen.

Häufige Fragen zur Unterscheidung von Stress und Angststörung

Wie häufig treten die Symptome auf?

Bei einer normalen Stressreaktion treten die Symptome vor konkreten, identifizierbaren Herausforderungen auf, wie einer Prüfung oder einem Vortrag. Bedenklich wird es, wenn die Symptome mehrmals wöchentlich ohne einen klaren, externen Auslöser erscheinen und Sie sich ständig „am Rande“ fühlen.

Wie lange dauern die Symptome an?

Normale Anspannung klingt in der Regel ab, sobald die Situation vorbei ist, und dauert von wenigen Minuten bis maximal einer Stunde. Wenn die Symptome jedoch stundenlang anhalten, in Wellen über den Tag wiederkehren oder Sie sich auch nach der Situation nicht beruhigen können, kann dies auf eine Störung hindeuten.

Beeinträchtigen die Symptome Ihren Alltag?

Der entscheidende Punkt ist der Grad der Beeinträchtigung. Bei normalem Stress können Sie trotz Nervosität weiterhin handeln und Ihren Verpflichtungen nachkommen. Wenn Sie jedoch beginnen, Situationen (z.B. soziale Treffen, Präsentationen) aktiv zu vermeiden, Ihre Arbeitsfähigkeit leidet oder Sie sich aus dem sozialen Leben zurückziehen, ist dies ein klares Warnsignal für eine behandlungsbedürftige Angststörung.

Stefan Müller, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt Psychosomatische Medizin seit 14 Jahren, aktuell leitender Oberarzt einer psychosomatischen Tagesklinik in Norddeutschland. Approbierter Arzt mit Zusatzqualifikationen in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und psychosomatischer Grundversorgung.